Der  Bunker

 

Schon oftmals war ich mit Seminargruppen im Rahmen der Führungen durch das Stammlager von Auschwitz in dem „Todesblock“, dem ehemaligern Block 11 des Lagers mit der Todeswand, den Räumen, in denen Scheinverhandlungen stattfanden und Ermordungen vorbereitet wurden, und dem Lagergefängnis im Untergeschoss, dem „Bunker“. Mehrfach haben Gruppen diesen Ort für ein Gedenken am Ende des Seminars gewählt, weil hier an der Todeswand die Grausamkeit und Unmenschlichkeit gegenüber unschuldigen Menschen und deren Leiden spürbar wird.

 

Die erneute Begegnung mit der Lagergefängnis im ehemaligen Block 11 war für mich diesmal anders, intensiver. Ich hatte in meinem Reisegepäck den Namen und die Lebensbeschreibung eines jungen Mannes, der nach einem gescheiterten Fluchtversuch in dem Bunker eingesperrt wurde und das Lager nicht überlebt hat. Von ihm will ich berichten, an ihn will ich erinnern.

 

Sein Name ist Paul Werner Bastheim, geboren am 28.01.1924 in Dortmund, in dem selben Jahr, in dem auch mein Vater geboren wurde, aber Paul Werner Bastheim wurde nur 18 Jahre alt. Sein Vater, Siegfried Bastheim, wurde 1878 als Jüngstes von fünf Kindern in Hofgeismar geboren. Dessen Mutter, Pauls Großmutter Sara Bastheim stammte aus der Familie Heilbrunn, die seit Beginn des 18. Jhds. in sechs Generationen in Hofgeismar lebte. Auch die Familie Bastheim lässt sich bis in das frühe 18. Jhd. nachweisen. Sie lebten ursprünglich in Hümme, hießen Siemon Abraham und dessen Sohn Abraham Siemon. Die Familie nahm 1808 unter der Regierung von Napoleons jüngstem Bruder Jerome, König von Westphalen, den Namen Bastheim an. Sie waren Händler und Kaufleute. Pauls Großeltern Simon und Sara Bastheim betrieben ein Geschäft für landwirtschaftliche Bedarfsgüter in der Petristraße 1 in Hofgeismar. Seinen Vater hat Siegfried Bastheim nie kennen gelernt. Simon Bastheim stammt 1877 wenige Monate vor seiner Geburt. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen wurde Siegfried Bastheim Maschinenbauingenieur, zog nach Dortmund und gründete 1910/11 dort die „Dortmunder Kettenfabrik Ingenieur Siegfried Bastheim“, die er bis 1931 leitete. 1921 heiratete er Ernestine Sachs aus Breslau. Neben dem Sohn Paul Werner hatte das Ehepaar noch zwei Töchter, Johanna, geboren am 11.01.1926 und Marianne, geboren am 07.03.1927. Zu Wohlstand gelangt, ließ sich die Familie 1927 vom dem bekannten Architekten Emil Pohle in Dortmund, An den Hörder Bäumen 19 (heute Rosa-Luxemburg-Straße 18) ein Wohnhaus bauen. Nach einem Konkursverfahren 1931 ging die Firma zunächst auf Ernestine Bastheim über, im Oktober 1933 auf den Kaufmann Bernhard Mester aus Sichtigvor bei Warstein über. Nach dem Verlust von Fabrik und Haus zog die Familie Bastheim 1934 nach Holland. Als Adresse von Siegfried Bastheim findet sich im Internet (http://www.joodsmonument.nl) Bussum /Nordholland, Willemslaan 6a und später Amsterdam, B. Distelweg 18. Nach der Okkupation Hollands im Mai 1940 wurde die Familie Bastheim in dem Lager Westerbork interniert. Alle Versuche durch Arbeitseinsätze in Holland der Deportation in die Vernichtungslager in Polen zu entgehen scheiterten. Ernestine Bastheim wurde am 10.08.1942 mit ihrem Sohn Paul Werner und ihrer Tochter Johanna nach Auschwitz deportiert, Siegfried Bastheim wurde mit seiner Tochter Marianne 10 Monate später, am 01.06.1943 nach Sobibor deportiert und dort ermordet.

 

Was geschah nun mit Paul Werner Bastheim ? Aus den spärliche Unterlagen und Dokumenten lässt sich folgendes rekonstruieren. Paul wurde zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester Johanna am 10.08.1942 von Westerbork nach Auschwitz deportiert. Aus dem Kalendarium von Auschwitz von Danuta Czech geht hervor, dass am 11.09.1942 ein Transport mit 559 Juden aus Westerbork in Auschwirtz ankam. Die Männer bekamen die Häftlingsnummern 57911 bis 58074. Da Paul Werner Bastheim die Häftlingsnummer 57926 bekam, muss die Familie mit diesem Transport nach Auschwitz gekommen sein. Der Transport kam an der alten Rampe neben der Bahnlinie Wien – Oswiecim an, nicht an der Rampe im Lager Birkenau, die erst im Mai 1944 fertiggestellt wurde, so dass die Männer, Frauen und Kinder von dort zu Fuß in das etwa zwei Kilometer entfernte Lager Birkenau laufen mussten. Was dort bei der Ankunft der Transporte geschah, wird anhand erhaltener Berichte und zweier Zeichnungen, die illegal entstanden sind, erfahrbar. Erschöpft von oft mehrtägigen Transporten wurden die Ankommenden aus den Waggons getrieben, ihres Gepäcks beraubt, Familien voreinander getrennt, um dann bei der Selektion entweder direkt in den Gaskammern umgebracht zu werden oder in das Lager zu kommen. Das alles an einem zunächst völlig unbekannten Ort und unter unmenschlichen Bedingungen. Wir wissen nicht, was mit Pauls Muter und Schwester nach der Ankunft geschehen ist, als Todesdatum – wahrscheinlich nachträglich für tot erklärt – ist in den Unterlagen der niederländischen Organisation „Oorlogsgravenstichting in The Hague“ für alle drei der 30.09.1942 angegeben. Getrennt von seiner Familie unter fremden Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, lebt der 18 jährige Paul Werner Bastheim nun im Auschwitz. Doch etwas in ihm scheint stärker zu sein, lässt ihn sich nicht mit den Gegebenheiten abfinden, der Wunsch nach Freiheit: Paul unternimmt kurz nach seiner Einlieferung in das Lager einen Fluchtversuch. Nach Unterlagen des ITS Bad Arolsen ist er an 15.08.1943, also vier Tage nach seiner Einlieferung aus dem Lager geflohen. Die Umstände seiner Flucht sind nicht bekannt. Allein in einem fremden Land, nicht wissend, wohin er gehen soll und wem er vertrauen kann, ständig bedroht, wieder gefangen zu werden, aber mit dem festen Willen frei zu sein. Nicht bekannt war ihm offensichtlich nach der kurzen Zeit im Lager, welche Konsequenzen und Strafen Mithäftlingen und Angehörigen bei solche Fluchten aus dem Lager drohten. So wurden beispielsweise zur Abschreckung zehn Mithäftlinge aus demselben Block, aus dem jemand geflohen war, ermordet. Wurde jemand wieder gefasst, wurde er misshandelt, gefoltert und in den Gefängniszellen in Keller des Blocks 11, in dem Bunker, eingesperrt, wo viele verhungerten, in den engen Zellen und in den Stehzellen wegen Luftmangels erstickten oder, wenn sie diese Torturen überlebten, anschließend erschossen oder erhängt wurden. Paul Bastheims Flucht in die Freiheit dauert nur einen Tag, am 16.08.1942 wird er gefasst und in dem Gefängnis in Myslowitz eingesperrt. Der Ort Myslowice liegt etwa 35 km nordwestlich von Oswiecim an der Bahnstrecke nach Katowice. Von dort aus kommt er nach Auschwitz zurück und wird in den Bunker im Block 11 eingesperrt. Sein Name, sein Geburtsdatum, seine Häftlingsnummer sowie Tag und Grund der Einlieferung sind in dem Bunkerbuch von Auschwitz eingetragen. Danach verlieren sich seine Spuren, aber die Erinnerung an ihn bleibt und sein Schicksal begleitete mich in diesem Jahr in dem Bunker des Blocks 11 von Auschwitz.

 

Umfangreiche Recherchen zur Familie Bastheim hat Frau Julia Drinnenberg aus Hofgeismar gemacht und auch in ihrem Buch „Stätten der Erinnerung – Gedächtnis einer Stadt“ beschrieben. Für die Benutzung der Dokumente und Materialien bedanke ich mich ganz herzlich.

 

Die Kettenfabrik Mester GmbH in Dortmund besteht nach wie vor. Auf der Website der Firma heißt es: „Kettenfabrik Mester GmbH zählt zu den größten Ankerstegkettenherstellern in Europa. ... Unser Anteil am europäischen Markt beträgt mehr als 60%.“

 

Zwei Brüder von Siegfried Bastheim, Gustav und Louis Bastheim sind 1919 bzw. 1937 in die USA emigriert. Um über sie und ihre Nachkommen etwas zu erfahren, bedarf es weitere Recherchen.

 

 

Hans-Peter Klein                                                                   Melsungen, Juli 2011